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C.3 | „Tobei – Gott sieht deine Schweinerei!“
Katholischsein in West-Berlin zwischen Mauerbau und Mauerfall am Beispiel der Pfarrei St. Matthias (Schöneberg)

Brechenmacher, Thomas / Wardecki, Bartek – Potsdam

Johannes Tobei, Generalvikar der Diözese Berlin, hatte in den Augen der Hausbesetzerszene eine „Schweinerei“ begangen: Ein abbruchreifes Haus durch ein Gemeinde- und Seniorenzentrum zu ersetzen – und das am Winterfeldtplatz in Schöneberg –, das war nur unter Polizeischutz durchzusetzen. Aber es sollte, so die linke Szene bitter ironisch, eben auch vor dem Gericht Gottes verantwortet werden. „Schlacht am Winterfeldtplatz“ ist der Titel der Akte, in der die Dokumente zu diesem politisch heißen Sommer abgelegt sind.

Das Teilprojekt erforscht exemplarisch anhand der Pfarrei St. Matthias in Berlin-Schöneberg den Wandel des Katholischseins in West-Berlin zwischen Mauerbau und Mauerfall (1960/61 – 1989/90). Es analysiert Sozialgestalt und Alltagskultur einer großstädtischen Kirchengemeinde in den komplexen Verflechtungen ihrer Akteure (Bischöfe / Kleriker, Gläubige, alters- und funktionsspezifische Gruppen) entlang von Semantiken, Praktiken und Emotionen und setzt beides zu den gedeuteten Erfahrungen der „modernen“ und „geteilten“ Metropole Berlin in Beziehung.

Ihre besondere Struktur- und Entwicklungsgeschichte macht die Pfarrei St. Matthias zu einer exemplarischen „Zelle“ katholischen Lebens in West-Berlin und zum nachgerade idealtypischen Untersuchungsgegenstand: für Religion und Zivilgesellschaft, für soziale, caritative und politische Handlungsfelder, für die Grenze der Systeme zwischen Ost und West. Am ihrem Beispiel lassen sich grundlegende Transformationen von Erfahrungen und Handlungsweisen der Katholiken in West-Berlin und seiner großstädtischen „Diaspora“ aufzeigen, welche für die Vielgestaltigkeit des Katholischseins seit den 1960er Jahren stehen. Doing catholicisms zeigt sich auf dieser Mikroebene in Formen von Differenzierung, Pluralisierung und Enthierarchisierung.

Im Zentrum des Forschungsprojekts steht die systematische Auswertung des Pfarrarchivs der Gemeinde St. Matthias. Diese Überlieferung stellt einen singulären Fall dar: In keiner anderen West-Berliner katholischen Pfarrei ist ein auch nur in Ansätzen vergleichbar vollständiges Archiv überliefert. Der Bestand wurde anlässlich der 150-Jahrfeier der Pfarrei 2018 gesichtet und inventarisiert und steht nun zum ersten Mal einer systematischen wissenschaftlichen Bearbeitung offen.

Dem kulturwissenschaftlichen Ansatz des Forschungsverbundes folgend untersucht das Teilprojekt die Transformationen des „Katholischseins“ in einer Großstadtpfarrei: Mitglieder und deren Entwicklung, Organisationen und Verbände, Caritas und soziales Handeln, Liturgie und Feiern, Politik und Konfliktmuster. Der Alltag der Kirchengemeinde St. Matthias entfaltet sich als Kommunikationsgeschehen ihrer Akteure: Durch die historische Analyse eines pfarrlichen Mikrokosmos eröffnet sich der alltägliche Kirchenglaube in seiner ganzen Bandbreite, aber auch der hoch politisierte und zivilgesellschaftliche Einfluss der Berliner Stadtgesellschaft auf diese Gemeinde. Die Analyse gewinnt zusätzliche Tiefenschärfe durch die Einbettung der semantischen, praktischen und emotionalen Befunde in Ereignis- und Strukturzusammenhänge vergleichbarer Pfarreien oder übergeordneter räumlicher Bezüge (z. B. des Bistums). Für das gesamtgesellschaftliche Klima der Bundesrepublik lässt sich anhand der Pfarrei zeigen, wie sich katholische Positionen „von der Basis“ her in sozialen und Strukturwandel-Debatten artikulieren (exemplarisch etwa anhand der Hausbesetzer-Debatte); desgleichen beleuchtet der Sonderfall Berlin, an der „Nahtstelle der Systeme“, die Positionierung von unmittelbar betroffenen Katholiken im Ost-West-Konflikt.

Die Hauptarbeit wird methodisch darin bestehen, diese dichte Archivüberlieferung mit den kulturwissenschaftlichen Zugangsweisen der Forschungsgruppe zu befragen. Dabei bietet es sich an, das Material entlang der Akteure und Akteursgruppen in der Pfarrei aufzugliedern und stets alle drei skizzierten Dimensionen der Analyse zu fokussieren.

Das Thema ist deshalb für den Gesamtforschungsverbund unersetzlich, weil es (1) den Blick auf die Mikrogeschichte einer großstädtischen Pfarrei richtet und (2) als einziges Teilthema die für die Bundesrepublik nicht unwichtige West-Berliner Perspektive einbringt. Es lässt sich zu nahezu sämtlichen anderen Teilprojekten des Forschungsverbundes in Beziehung setzen, insbesondere zu A.3 (Pastoral Stuttgart), B.1.2 (Priesterbild), B.2 (Rollen und Rituale).

Im Rahmen des Forschungsverbundes wird darüber hinaus der Frage nachzugehen sein, inwieweit die für West-Berlin ermittelten Kennzeichen eines gewandelten „Katholischseins“ sich zu den übrigen für die Bundesrepublik erhobenen Befunden fügen oder davon abweichen.