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Katholischsein in der deutschen Gesellschaft (1965–1989)

Die DFG-Forschungsgruppe 2973 stellt die Frage: „Was kommt nach dem ‚katholischen Milieu‘?“ – religionskulturell, politisch, gendertheoretisch? Unsere zentrale These: Der überkommene Katholizismus löst sich nicht einfach in die Säkularisierung hinein auf. Vielmehr gehen aus der Sozialform des katholischen Milieus diversifizierte Gestaltungen des „Katholischseins“ hervor. Diese prägen Gesellschaft und Kultur der Bonner Republik neu und erheblich mit. Kirchliche Zeitgeschichte wird zugleich allgemeine Zeitgeschichte.

Der deutsche Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts wurde über Jahrzehnte als kirchengebundene, sozial formierte Gruppe erforscht. Nun steht ein grundlegender Paradigmenwechsel an. Es ist der Wandel (1) unseres Forschungsgegenstandes, und (2) unserer Fragestellung, die uns dazu veranlassen. Und daran orientieren wir auch unsere (3) Analyseebenen.

 

Wir wollen die Religion in der Gesellschaft analysieren –
das ist wichtiger, als die Religion in Gestalt einer verfassten Kirche zu betrachten.

  1. Der Gegenstand: 1950 sind 50% der Katholiken regelmäßige Kirchgänger, 2018 sind es unter 10%.  Die Anzahl  der  Katholiken – um   die   25 Mio. – hat   sich   jedoch   kaum   verändert. Zunächst in einem Zeitraum zwischen 1965 und 1989/90 will „Katholischsein“ Prozesse der Öffnung fassen: plurale Wandlungsdynamiken und erweiterte Räume zivilgesellschaftlicher und politischer Vernetzung. Im Englischen wäre „Katholischsein“ nicht „being catholic“, sondern „doing catholicisms“ – im Plural. Was sind die vielen Formen des „Katholischseins“, wenn sie nicht mehr als organisierte Kirchlichkeit stattfinden? In welcher Weise sind diejenigen, die nicht mehr zur Kirche, aber zu den Grünen gehen, auf ihre Art katholisch? „Katholischsein“ als Forschungsgegenstand rechnet nicht mehr mit einem soziopolitischen und religionskulturellen Milieu, das sich vom Rest der Gesellschaft signifikant unterscheiden will.
  2. Die Fragestellung: Die zentristische Kirche und ihre sinnbildenden Deutungen wandelten sich durch das II. Vatikanische Konzil grundlegend. Dessen Rezeption konzipierte den Zusammenhang von Religion und Gesellschaft völlig neu. Religion verschwindet nicht. Vielmehr verändert sich der soziale Ort, an dem sie sich ereignet und in diesem Prozess mithin die Semantiken, die Praktiken und die Emotionen des Religiösen. Diesen Wandel zu analysieren, fordert einen Wandel des Forschungsparadigmas – nicht mehr Zeitgeschichte eines konfessionellen Milieus, sondern Religion eingeschrieben in die zeitgeschichtliche Veränderungsdynamik. Welchen spezifischen Beitrag – das ist unsere neue Fragestellung – leistete das „Katholischsein“ zur Sozialgestalt der Bundesrepublik seit den 1960er/70er Jahren?
  3. Gegenstand und Fragestellung leiten unsere Analyseebenen. Der Begriff „Katholischsein“ will drei relevante Entwicklungen erfassen: 
    1. Die Gläubigen subjektivieren ihre Glaubensüberzeugungen und moralischen Standards rasch und dauerhaft; dadurch wandeln sich die Ursprünge und Bezüge religiöser Autorität: weg vom fraglosen Gehorsam gegenüber der Hierarchie von Papst und Bischöfen, hin zu den Thesen jener Theologen und Pastoralpsychologen, die man als innovativ diskutiert. 
      Diese Entwicklung bearbeitet der Projektbereich A „Theologietreiben als soziale Praxis“.
    2. Dadurch werden religiöser und sozialer Sinn auf neue Weise gebildet; neue Gruppen und Rollen entstehen, die religiöses Handeln wesentlich als gesellschaftliches Handeln verstehen. 
      Dies begründet den Projektbereich B „Rollen und Rituale“.
    3. Katholische Akteure vernetzen sich mit anderen politischen und sozialen Gruppen, um zukunfts- und gemeinwohlorientiert an zivilgesellschaftlichen Problemlagen zu arbeiten. 
      Dies thematisiert Projektbereich C „Zivilgesellschaft und Politik“.

Kurz: Wir wollen die Religion in der Gesellschaft analysieren – das ist wichtiger, als die Religion in Gestalt einer verfassten Kirche zu betrachten.